Fried, Lechgrenze
Zur Entstehung und frühen Geschichte
der alamannisch-baierischen Stammesgrenze am Lech
*
Noch in Korrektur!
Aus: Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bd. 1, 1979, 47 ff.
Vor einiger Zeit war in bayerischen - und wohl auch in
baden-württembergischen -Presseberichten zu lesen, daß der Freistaat
Bayern und das Land Baden-Württemberg in einem Staatsvertrag, der am 17. 11.
1977 auf der Burg Reisensburg bei Günzburg von den Ministerpräsidenten
beider Länder unterzeichnet wurde, Grenzkorrekturen an der Iller, oberen
Argen und am Schwarzenbachsee vereinbart haben, die sich durch
Flußbe¬gradigungen als notwendig erwiesen hatten. Dabei gehen 19,2 ha
Land an Bayern über, während Baden-Württemberg von Bayern 55,9 ha
mit 12 Bewohnern erhält 1).
Dieser Staatsvertrag ist vorläufig der letzte in einer Reihe, die seit dem
15. Jahrhun¬dert das Herzogtum und spätere Kurfürstentum Bayern mit
seinen jeweiligen westli¬chen Nachbarländern abgeschlossen hat 2. Meist
waren ihnen jahrzehntelange juristische Streitigkeiten vorausgegangen. Den
bislang tiefsten Eingriff bedeuteten dabei die Land¬erwerbungen Bayerns zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Raum zwischen Lech und Iller bayerisch und
die Iller damit zum bayerischen Grenzfluß gegenüber Württemberg
wurde 8. Bis dahin war der Lech die uralte Grenze des bayerischen Herzogtums im
We¬sten gewesen.
Die Grenze am Lech bildete aber nicht nur Staats- und Herrschaftsgrenze, sondern
auch wesentlich Stammesgrenze zwischen den Baiern und Schwaben, die bekanntlich
F. L. Baumann wohl endgültig auch als Alamannen erwiesen hat 4. Eine
Tatsache, die durch keinen Staatsvertrag und keine Annektion beseitigt werden
konnte und die auch heute noch voll und ganz im Bewußtsein der
Bevölkerung lebendig ist: im altertümli-
______________
*) Der Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines am 10. Dezember 1977
vor dem Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte gehaltenen
Vortrags dar.
1 Vgl. Bericht in der Augsburger Allgemeinen vom 18.11. 1977, S. 4.
2 Vgl. Zusammenstellung in FRIEO/HIERETH, Historischer Atlas Landgerichte
Landsberg und Schongau (HAB, Teil Altbayem H. 22/23) 1971, 16 H., 43 H.
3 Vgl. Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben, hrsg. v. W. ZORN, 1955, Karte
52, Text S. 50. Vor allem setzte der Pariser Staatsvertrag vom 18.5. 1810 mit
Württemberg die heute noch gültige Westgrenze Bayerns fest, die das
Allgäu und das Ries in einen größeren bayerischen und kleineren
württembergischen Anteil zerriß und nur das Vorstadtgebiet des jetzt
württember¬gischen Ulm auf dem rechten IIlerufer (später Neu-Ulm)
bei Bayern beließ.
4 F. L. BAUMANN, Schwaben und Alamannen, ihre Herkunft und Identität
(Forschungen z. dt. Geschichte XVI) 1876, 217 H., wieder abgedruckt in Baumanns
Forschungen zur schwäbischen Geschichte, 1898, 473 H., 500 H. Vgl. K.
WELLER, Geschichte des schwäbischen Stammes bis zum Untergang der Staufer,
1944.
__________________________________________________________________________
48
chen Wort »Lechrain«, der heute noch im Gebrauch ist, kommt das
nachweislich seit dem 16. Jahrhundert zum Ausdruck 6. Was diese
baierisch-schwäbische Stammesgrenze am Lech bis zum heutigen Tag
konserviert, ist die Mundartgrenze, die der Lech zwi¬schen dem baierischen
und schwäbischen Dialekt bildet. Eine Grenze, mit der sich letzt¬lich
auch Unterschiede in der Mentalität und im Volkstum verbinden.
Durch die nun mehr als 170jährige Zugehörigkeit des
stammesschwäbischen Landes zwischen Iller und Lech, Alpen und Donau zum
Königreich und Freistaat Bayern ist die Lechgrenze als Stammesgrenze in der
Literatur zurückgedrängt worden. Dies ist viel¬leicht auch der
Grund, weswegen die baierisch-alamannische Stammesgrenze bis zum heutigen Tag
noch keine exakte wissenschaftliche Monographie gefunden hat 6. Die bayerische
Historiographie hatte seit dem 19. Jahrhundert verständlicherweise kein
be¬sonderes Interesse mehr, die alte Grenze am Lech stark herauszustellen,
wie umgekehrt die alamannisch-schwäbischen Nachbarländer
Württemberg und Baden die napoleoni¬sche Illerlinie vielfach als
»Untersuchungsgrenze« für ihre historischen Studien
betrach¬teten. Einer Augsburger Landesgeschichte fällt angesichts dieser
Situation eine ausgespro¬chene Brücken- und Vermittlungsfunktion zu: an
der Grenze der beiden Stammesland¬schaften immer wieder zur Diskussion und
Lösung kontroverser Probleme im Sinne einer vergleichenden
bayerisch-schwäbisch/alamannischen Landesgeschichte beizutragen. Daß
sich dabei der Raum des heutigen bayerischen Schwaben wieder stärker
akzentuiert, ist eine erfreuliche Nebenwirkung 6a.
Nun ist es keinesfalls so, daß sich nicht auch die allgemeine
Mittelalterforschung ein-gehend mit der Geschichte der deutschen Stämme und
damit auch mit den Stammesgren¬zen beschäftigt hätte. Sie hat die
bekannten, grundlegenden Werke zur Geschichte der germanischen und deutschen
Stämme hervorgebracht 7. Was die Grenzen betrifft, so widmen sie sich
verständlicherweise mehr der Entstehung und Entwicklung der deut¬schen
Volks-, Sprach- und Reichsgrenze gegenüber fremdem Sprach- und Volkstum 8;
die Erforschung von »Binnenstammesgrenzen« erschien demgegenüber
nicht selten von sekundärer Bedeutung, als eine Angelegenheit der Lokal- und
Heimatforschung. Nach
_________________
5 Vgl. die Karte in ]OHANNES AVENTINS Bayerischer Chronik, hrsg. v. GEORG LEID IN
GER, 2. Auflage der Neuausgabe 1975 (Erstdruck 1926).
6 Der große Ansatz Johann Georg v. Loris, des Begründers der
Bayerischen Akademie der Wis-senschaften in seiner »Geschichte des
Lechrains, zweyter Band, Urkunden enthaltend« (1765), ist unvollendet
geblieben, ebenso auch das Regestenwerk seines Fortsetzers JOSEPH FRHR. V.
HOR-MAYR-HoRTENBURG, Die goldene. Chronik von Hohenschwangau, der Burg der
Welfen, der HochenstauHen und der Scheyren, 1842.
6a P. FRIED, Traditionen bayerisch-schwäbischer Landesgeschichtsforschung
(ZBLG 40) 1977, 625-639.
7 Vgl. GEBHARDT/GRUNDMANN, Handbuch der dt. Geschichte, I. Bd. 9. Aufl. Nd. 1973,
92 H., 701 H.; L. SCHMIDT, Gesch. der deutschen Stämme bis zum Ausgang der
Völkerwanderung. Die Westgermanen 11, 21940.
8 Z. B. P. KIRN, Politische Geschichte der deutschen Grenzen, 4. verb. Aufl.
1958; H. AUBIN, Das Deutsche Volk in seinen Stämmen, Neudr. in: Von Raum und
Grenzen des deutschen Vol¬kes, 1938; H.- J. KARP, Grenzen in Ostmitteleuropa
während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der
Grenzlinie aus dem Grenzsaum (Forschungen und Quellen zur Kir¬chen- und
Kulturgeschichte Ostdeutschlands 9) 1972.
_________________________________________________________________________
49
den romantisch-deutschnationalen Übersteigerungen des 19. und 20.
Jahrhunderts, denen wir aber zweifellos eine enorme Bereicherung unseres Wissens
verdanken, ist jedoch seit dem 2. Weltkrieg gegenüber diesen Problemen eine
gewisse Ernüchterung und Zurück-haltung festzustellen. Unter
Rezipierung ethnosoziologischer Kategorien hat 1961 erst-mals wieder Reinhard
Wenskus versucht, in seinem Werk über Stammesbildung und Verfassung die
Akzente mehr auf Herrschaft und Politik als auf Volksgeist und Rasse zu setzen 9.
Wenskus macht auf den Umstand aufmerksam, daß der Stamm als
Sied-lungsgemeinschaft seiner ursprünglichen Natur nach zwar ein
Personenverband ist, die¬ser aber schon in germanischer Zeit Grenzen haben
konnte. Er verweist dabei auf die Tatsache, daß auch dem früh- und
hochmittelalterlichen Stamm ein Territorium, ein »Land« eignet und
deswegen Grenzen hat, was bereits von Otto Brunner und Walter Schlesinger in
Auseinandersetzung in dem von Theodor Mayer geprägten Begriffspaar vom
»aristokratischen Personenverbands- und institutionalisierten
Flächenstaat« festge-stellt wurde 10. Wenskus nimmt unter dem
Abschnitt »Der Stamm als Siedlungsgemein-schaft« zum Problem der
Stammesgrenze im einzelnen folgendermaßen Stellung 11: »Die Versuche,
Stammesgebiete kartographisch festzulegen, gehen gewöhnlich von der
Vor-aussetzung aus, daß der Stamm eine Siedlungsgemeinschaft ist. Das
scheint selbstver-ständlich, ist aber nur unter bestimmten Voraussetzungen
richtig. Es ist immer im Auge zu behalten, daß der Stamm an sich ein
Personalverband ist. Daher rührt es ja, daß die Ländernamen
vielfach aus Völkernamen zu erklären und daß gerade in unserem
Bereich oft der Stammesname oder eine Ableitung von ihm das Stammesgebiet
mitbezeichnen. Andererseits ist aus Cäsar und Tacitus bekannt, daß die
Gebiete der germanischen Völ-kerschaften von Ödmarken und
Wasserläufen begrenzt waren« 12. Bei ihrer Seßhaftwer-dung und
Einbeziehung in größere Herrschaftseinheiten boten sich
Flußläufe und Wald-gebiete in verstärktem Maß für die
Grenzmarkierung an. Daß aber Flüsse gerade für die Siedlung -
ebenso wie die Gebirgskämme - kein Hindernis bedeuteten, ist dabei nicht zu
übersehen. Ebenso können ursprüngliche, meist waldbestandene
Grenzsäume durch Rodung allmählich zu einer Grenzlinie werden, ein
Vorgang, der ins besonders bei klei-neren (Grund-) Herrschaften (= marcae,
»march«) zu beobachten ist. Darauf hat vor al-lem die
Siedlungsgeschichte hingewiesen, die die ursprünglichen Siedlungs räume
und ihre Abgrenzung gegenüber Wald- und ödland zu ergründen
versucht.
Es sind heute weniger diese allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Probleme als
viel-mehr die Ergebnisse der Prähistorie und Archäologie, die nach
einer »stammesgeschicht-lichen« Erklärung für ihre Befunde
von der Geschichtswissenschaft verlangen. Die Dis-kussion um die ethnische
Zuordnung frühgeschichtlicher Fundkomplexe ist in vollem Gange; das Problem
der historischen Kontinuität schiebt sich dabei von selbst in den
____________
9 R. WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Die Entstehung der
frühmittelalterlichen gen¬tes, 1961.
10. Vgl. O. BRUNNER, Land und Herrschaft, 3. Auflage 1943, S. 521; W.
SCHLES1NGER, Herr¬schaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen
Verfassungsgeschichte (Wege der For¬schung 11) 1972 (1. Auflage 1953). Zur
Forschungskontroverse vgl. Literatur bei WENSKUS, Stam¬mesbildung, S. 48
Anmerkung 227.
11 Wenskus, Stammesbildung 44.
12 Vgl. auch S. 102 im Register »Grenze« bzw.
,.Sprachgrenze«.
_______________________________________________________________________
50
Mittelpunkt. Wie fruchtbar heute die Begegnung von Prähistorie und
landesgeschichtlich orientierter Mediävistik ist, das haben die letzten
beiden Reichenau-Tagungen zu diesem Thema gezeigt 13.
Sodann ist es die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, die sich immer
wieder von ihrem Forschungsgegenstand her, insbesondere der Mundartforschung, mit
Stammes-geschichte zu befassen hat 14. Auch sie hat bahnbrechende Leistungen
aufzuweisen, erin-nert sei nur an den Deutschen Sprachatlas, der für unsere
Thematik am einschlägigsten ist. Die neuere Forschung neigt indes nicht
dazu, der vorschnellen Gleichsetzung von Sprach- und Mundartgrenzen mit
Stammesgrenzen zuzustimmen. Es konnte nachgewie-sen werden, daß
unterschiedliche Sprachmerkmale ihren Ursprung vielfach erst in der hoch- und
spätmittelalterlichen Territorienwelt haben. Zuletzt ist allerdings eine
Ten¬denz zu erkennen, dem Stamm bzw. frühen herrschaftsräumlichen
Verhältnissen wieder eine größere Rolle in der Mundartbildung
zuzubilligen, allerdings in einer sehr differen¬zierten Weise 15. Die
Identifizierung von Mundart und Volkstum, die lange gegolten hat, ist heute
gleichfalls nicht mehr selbstverständlich. Daß bei der Dialektologie
der Er¬mittlung von genauen Grenzlinien, Grenzbündeln und
Grenzsäumen eine große Bedeu¬tung zukommt, braucht nicht eigens
betont zu werden.
Unter dem Einfluß moderner soziologischer und wirtschaftstheoretischer
Fragestel-lungen und als Auswirkung der ideologischen Obersteigerung
geopolitischer Faktoren hat sich die Geographie heute stark vom historischen
Bereich zurückgezogen. Gleich¬wohl gebührt der kulturhistorischen
Schule der Geographie das Verdienst, von den »na¬türlichen
Grenzen« ausgehend sich auch mit den Problemen der »künstlichen
Grenzen« befaßt zu haben 16. Der Einfluß der Geographie war es
schließlich, der in Kombination mit anderen Fächern zur Ausbildung der
»Geschichtlichen Landeskunde~ oder »jüngeren
Landesgeschichte« in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wesentlich
beigetragen hat, einer Forschungsrichtung, die vor allem dann in Bonn in der
Zusammenarbeit von Historikern, Geographen, Archäologen und Volkskundlern
unter Hermann Aubin, Franz Petri und Franz Steinbach eine erste Blüte
erfahren hat 17. In ihrem Rahmen ent-
_______________
13 Protokolle Nr. 208 und 213 der Arbeitstagungen vom 5.-8.10.1976 bzw. 29.3.-1.
4.1977 »Von der Spätantike zum frühen Mittelalter«.
Aktuelle Probleme in historischer und archäologi¬scher Sicht, I: Noricum
und Raetia I; 11: Germania I (Neuwieder Becken und Moselmündung), Maxima
Sequanorum (Oberrhein und Nordburgund).
14 Vgl. H. MAlER, 1945-1977: Wandlungen eines Faches. Zur Eröffnung des
Germanistentages 1977 (Schulreport 1977 Heft 5) 1 ff.
15 R. SCHÜTZEICHEL, Mundart, Urkundensprache und Schriftsprache (Rheinisches
Archiv 54) 21974; W. KÖNIG, dtv-Atlas z. dt. Sprache, 1978.
16 Historische Raumforschung; Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie
für Raumfor¬schung und Landesplanung Bd. VI, X, XV, XXI, XXX, XXXIX,
1956-1967; H. JÄGER, Histo¬rische Geographie (Das Geogr. Seminar, hrsg.
v. Fels, Weigt u. Wilhelmy) 1969; H. HASSINGER, Die geographischen Grundlagen der
Geschichte, 31953. Eine besondere Rolle spielte das Grenz¬problem in der sog.
»Geopolitik«; vgl. P. SCHÖLLER, Wege und Irrwege der politischen
Geogra¬phie und Geschichte (Erdkunde 1957).
17 Vgl. Probleme und Methoden der Landesgeschichte, hrsg. v. P. FRIED (Wege der
Forschung Bd. 492) 1978; A. v. HOFMANN, Das Deutsche Land und die deutsche
Geschichte, 3 Bde. 1930; F. STEINBACH, Studien zur westdeutschen Stammes- und
Volks geschichte, 1962.
_________________________________________________________________________
51
standen dann die großen landesgeschichtlichen Atlaswerke, die sich mit dem
Phänomen der »Grenze« in all ihren Schattierungen eingehend
befassen 18.
Auch der Volkskunde, die sich einst aus der Germanistik als eigene Disziplin zur
Er-forschung des deutschen und stammlichen Volkstums ausgesondert und gerade im
Atlas der deutschen Volkskunde Bahnbrechendes geleistet hat, fehlt heute der
aktuelle Impuls, sich erneut mit Fragen der Volks- und Stammesbildung zu
befassen. Sie weicht zuse¬hends unter dem Einfluß soziologischer Ideen
auf die Beschäftigung mit der sogenannten »europäischen
Ethnologie« aus, wobei es noch heftige Diskussionen darüber gibt, was
ih-ren eigentlichen Inhalt ausmacht 19.
Ziehen wir das Fazit aus diesem wissenschaftlichen »tour d'horizont«
und versuchen daraus die aktuelle wissenschaftstheoretische Problematik und
inhaltliche Problemstel-lung für eine zunächst sehr begrenzt anmutende
stammesgeschichtliche Grenzbetrach-tung am Lech zu finden:
a) Die Untersuchung historischer Stammesgrenzen hat einmal im
interdisziplinären Ansatz, also im Zusammenwirken verschiedener
Fachdisziplinen und Methoden zu erfol-gen, deren Ergebnisse - gerade auch
widersprüchliche! - zu kontrastieren und zu kombinieren sind.
b) Zum anderen besteht die Aufgabe, Entstehung und Geschichte einer
Stammesgren-ze aus ihrer jeweiligen konkreten historischen Situation und Funktion
heraus dynamisch und differenziert zu betrachten.
Wenden wir uns unter dieser Sicht der Entstehung der alamannisch-baierischen
Stammesgrenze im Früh- und Hochmittelalter zu, die sich im wesentlichen mit
dem Lauf des Lechs von der Dreistammesecke am Hesselberg 20 bis zur Silvretta
deckt; die Ver-hältnisse im Vintschgau 21 ebenso wie auch am Hesselberg
müssen des zeitlichen Rah-mens wegen dabei außer Betracht bleiben.
Daß diese Grenze nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit gefunden
hat, seitdem sie nicht mehr bayerische Staatsgrenze ist, wurde bereits
erwähnt; auch ist angeklungen, daß sie als
»Binnenstammesgrenze« eine Grenze »zweiter« Ordnung im
Vergleich zu nationalen Volkstums grenzen darstellt. Dies besagt aber nicht,
daß sie gänzlich ohne Beachtung geblieben ist. Die Durchsicht der
Literatur zur Stammesgeschichte zeigt, daß die Lechgrenze so gut wie in
allen Studien, die sich mit der Geschichte des alamannischen und baierischen
Raumes befassen, Erwähnung fin¬det, angefangen von der einfachen
Apostrophierung bis hin zum ausführlichen wissen-
_____________
18 Vgl. G. FRANZ, Historische Kartographie, 2. Aufl. 1962.
19 Vgl. Bayer. Blätter für Volkskunde, hrsg. v. W. BRÜCKNER und L.
KRlss-RETTENBECK, Jgg. 1 H. 1974 H.
20 A. GABLER, Die alemannische und fränkische Besiedelung der
Hesselberglandschaft. (Vö. d. SFG, Reihe 1 Bd.4) 1961; E. NÜBLING, Die
»Dreistammesecke« in Bayern in sprachlicher und geschichtlicher
Betrachtung (Zeitschr. d. hist. Vereins f. Schwaben und Neuburg 53) 1938,
185-299; DERs., Die Dreistammesecke in Bayern (Zeitschr. Schwabenland)
1939,47-79.
21 F. DÖRRER, Bistümer und Bistumsgrenzen im Umkreis des Reschen (Jb.
d. Südtiroler Kulturinstituts Bd. V/VI/VII) 1965/67, 251-274; Bayer.
Geschichtsatlas, hrsg. v. M. SPINDLER, 1969, Karte 14, Text S. 70; B. BILGERI,
Geschichte des Vorarlbergs Bd. I, 2. Aufl. 1971, Karte S.61.
______________________________________________________________________
52
schaftlichen Exkurs 22, Ein besonderer Impuls zu ihrer Beschäftigung ging
und geht da¬bei immer wieder von der Frage nach der ungelösten Herkunft
des baierischen Stammes und der Struktur des frühen baierischen
Stammesherzogtums im 6. und 7. Jahrhundert aus 23, Im Gegensatz zur Mundartgrenze
hat jedoch, wie bereits ausgeführt, die Entste¬hung der
historisch-politischen Stammesgrenze am Lech bis jetzt noch keine eigene
Dar¬stellung erfahren. Die Studie von Ernst Klebel über
»Kirchliche und weltliche Grenzen in Baiern« 24 und die Karten im
Bayerischen Geschichtsatlas 25 und im Historischen At¬las von
Bayerisch-Schwaben 25a sind immer noch die wertvollsten Vorarbeiten, zu denen
vielleicht meine eigenen Bemühungen im Rahmen der Bearbeitung der
bayerischen Grenzgerichte Landsberg und Schongau im Historischen Atlas von Bayern
zu rechnen sind 26,
Die Ansichten über Entstehung und frühen VerIauf der Lechgrenze sind,
um es vor-weg zu sagen, ebenso vielfältig wie gegensätzlich, was
angesichts der dürftigen Quellen-lage nicht verwundert. Doch hat sich die
»Lechlinie« allgemein als Grenze durchgesetzt, wie der Blick in
unsere historischen Welt- und Regionalatlanten zeigt, die nur
geringfü¬gig voneinander abweichen, vor allem, was das Gebiet
südöstlich von Augsburg betrifft, worauf wir zurückkommen. In
Kenntnis dieser Literatur und ihrer Kontroversen, aber ohne diese im einzelnen
allzusehr auszubreiten, sei im folgenden versucht, die Probleme der Entstehung
und Frühgeschichte der alamannisch-baierischen Stammesgrenze unter folgenden
zwei Gesichtspunkten abzuhandeln, wobei hier nur die wichtigsten grenzbezo-genen
Probleme berücksichtigt werden können, um nicht in eine Erörterung
der Ge-schichte der »begrenzten« Räume, Stämme und
Institutionen auszuufern:
1) Die alamannisch-baierische Grenze als politische Grenze
(Herrschaftsgrenze).
2) Die alamannisch-baierische Grenze als Mundart-, Siedlungs- und Volkstums
grenze.
Zusammenfassend soll thesenhaft die historische Funktion der
baierisch-alamanni-sehen Stammesgrenze am Lech im Früh- und Hochmittelalter
als Ergebnis vorgestellt werden.
1. Die Stammesgrenze als politische Grenze (Herrschaftsgrenze)
Die Frage, ob sich die Stammesgrenze aus einer siedlungsmäßigen oder
herrschaft¬lich-politischen Grenzziehung oder aus beidem entwickelt hat, sei
zunächst offen gelas¬sen. Wir befragen einfach die vorhandenen
schriftlichen Quellen, was sie unmittelbar über Entstehung und
Frühgeschichte der alamannisch-baierischen Grenze auszusagen vermögen.
__________
22 Beispielsweise bei E. v. OEFELE, Zur Geschichte des Hausengaues (Oberbayer.
Archiv 32) 1872, 1 H.; HEIGEL/RIEZLER, Das Herzogtum Baiern zur Zeit Heinrichs
des Löwen, 1867, 192 H. 23 Vgl. zuletzt A. KRAUS, Die Herkunft der
Bajuwaren, in diesem Band S. 27 H.
24 Erstmals erschienen 1939, abgedruckt in Schriftenreihe z. bayer.
Landesgeschichte Bd.57, 1957, 184-256.
25 lnsbesonders Karte Nr. 14 und 15.
25a lnsbesonders Karte Nr. 9 von E. Nübling. 26 Siehe Anmerkung 2.
_________________________________________________________________________
53
Die Hauptquelle für die Ansicht, daß bereits im 6. Jahrhundert am Lech
die Grenze zwischen Baiern und Alamannen gewesen sei, bildet das Werk des
italienischen Hagio-graphen und späteren Bischofs von Poitiers, Venantius
Fortunatus (t nach 600). In der Vorrede zur Sammlung seiner Gedichte, die etwa um
576 entstanden sind, heißt es: » ... Drauum Norico, Oenum Breonis,
Liccam Baiuuaria, Danuvium Alemannia, Rhe¬num Germania transiens ... «
27. übersetzt: » ... während ich die Drau in Noricum, den Inn im
Breonenland, den Lech in Baiern, die Donau in Alamannien, den Rhein in
Ger¬manien überschritt ... [schrieb ich die Gedichte].« Daraus hat
man nicht nur den Schluß gezogen, daß um 565, als Fortunatus seine
Reise machte, der Lech schon die Grenze Bai¬erns gegenüber den Alamannen
gewesen sei, sondern daß auch das Land links, also west¬lich des Lechs,
bis etwa zur Iller hin, bereits baierisch gewesen sei 28. Jedoch hat schon Hans
Zeiß 1927/28 empfohlen, diese Stelle nicht zu pressen; »keinesfalls
wäre sie ein Zeugnis für ein übergreifen der Bayern auf das linke
Lechufer« 29. Die bekanntere Stel¬le aus der Vita Sancti Martini, die
der Dichter zwischen 573 und 576 verfaßte, ist dieje¬nige, in der er
bei einer Reisebeschreibung den Kult der hl. Afra um 565 in Augsburg
er¬wähnt und dann fortfährt: » ... Si vacat ire viam neque te
Baiuvarius obstat, qua vicina sedent Breonum loca, perge per Alpem, ingrediens
rapido qua gurgite volvitur Aenus« 29&. übersetzt: » ...
wenn die Straße offen ist, und dir nicht der Baier entgegen¬tritt, so
ziehe dort durch das Gebirge, wo in der Nähe die Orte der Breonen liegen; du
betrittst es, wo der Inn sich in reißendem Strudel dahinwälzt.«
Aus dieser Stelle, in der übrigens zum ersten Mal der »Baier«
personal erwähnt ist, wird allgemein der Schluß gezogen, daß
damals die baierische Orts grenze bereits der Lech war. Da als nächste
Sta¬tion der Reisebeschreibung die gnadenreiche Kirche des hl. Valentin (zu
Mais bei Bozen) genannt ist, nahm seinerzeit Hermann Wopfner an, daß der
Ausdruck "per Alpem« sich auf die Straße über den Fernpaß
beziehen müsse. Demnach wäre die alte Via Claudia längs und
westlich des Lechs die Reiseroute gewesen. Doch ist es auch möglich,
daß die Brennerstraße gemeint ist, die seit dem 2. Jahrhundert von
Augsburg dem Ammersee entlang, also östlich des Lechs über
Partenkirchen und Wilten über den Brennerpaß nach Italien
führte.
Der Umstand, daß Venantius Fortunatus die Baiern als Leute charakterisiert,
die eventuell dem frommen Pilger im Wege stehen, weist darauf hin, daß sie
damals schon daran waren, nach Westen auszugreifen, wenn man eine Herkunft aus
dem Osten an-nimmt. Ob daraus der Schluß gezogen werden kann, daß
Venantius die Baiern bei ihrem ersten Auftreten als »ein Volk von
Straßenräubern« schildert, wie dies zuletzt (1974) in einer
Quellensammlung zur bayerischen Geschichte geschehen ist, sei dem hier vielleicht
_________________
27 MG Auct. Antiqu. 4,2.
28 J. ZIBERMAYR, Noricum, Baiern und österreich. Lorch als Hauptstadt und
die Einführung des Christentums, 1944/21956, 75, 77, 93, 176 u. a.
29 Bayer. Vorgeschichtsfreund I/I1, 1922/23, 42. Dagegen E. KLEBEL, Bayern u. der
fränkische Adel im 8. u. 9. Jh. (Vorträge und Forschungen Bd.1, 1952,
S. 207 f.), der eine bajuwarische Besiedelung bzw. Beherrschung des Raumes bis
zur IIler zwischen 560 und 743 annimmt.
29a MG Auct. Antiqu. 4,368.
_____________________________________________________________________
54
objektiver urteilenden Nichtbayern zur weiteren Interpretation und Diskussion an
heim gestellt 80.
Die erste eindeutige Nachricht, daß der Lech die Grenze zwischen Baiern und
Ala¬mannien bildet, liefern uns die Berichte über die kriegerischen
Unternehmungen Karls des Großen gegen Herzog Tassilo III. von Bayern
für das Jahr 78781• Sein Biograph Einhard schreibt, daß Karl
»copiis undique contractis Baioariam petiturus, ipse ad Le¬chum cum
magno venit exercitu. Is fluvius Baioarios ab Alemannis dividit. Cuius in ripa
castris conlocatis ... « In den Annalen Einhards heißt es zum
gleichen Vorgang: » ••• ipse cum exercitu, quem secum
duxerat, super Lechum fluvium, qui Alemannos et Baioarios dirimit, in Auqustae
civitatis suburbano consedit ... «
Der Lech ist also hier ausdrücklich als Grenze zwischen den Baiern und
Alamannen bezeichnet; die Lechlinie und speziell Augsburg sind auch für Karl
d. Gr. der Ausgangs¬punkt für kriegerische Invasionen nach Bayern
gewesen. Dies war bereits 743 der Fall, als Pippin und Karlmann dem Baiernherzog
Odilo am Lech eine Niederlage beibrach¬ten 82: » ... venientes super
fluvium, qui dicitur Lech, sederunt super ripam fluminis uterque exercitus ...
«.
Für das Jahr 910 berichtet Liudprand v. Cremona: »Iamiam rex
Hulodoicus collecta multitudine Augustam venerat, quae est in Suevorum,
Bagoariorum seu orientalium Franeorum confinio civitas ... « 88. Wie sich
die militärische Situation an der »Lech¬linie« noch vier
Jahrhunderte später, wenn auch rollenvertauscht, gleicht, zeigt die
nächst vorhandene Quelle aus dem 12. Jahrhundert. Diesmal, 1139, ist vom
Aufmarsch des Baiernherzogs gegen den König in Richtung Alamannien
berichtet: »Leopoldus marchio, suscepto a rege ducato Norico, ... collecta
milite copiosa, totam Baioariam pertransiens, in ipso eius termino iuxta Licum
fluvium contra urbem Augustensem negocia terre per triduum tractans strenui
judicis officium ecercuit« 84. Otto von Freising berichtet weiter für
das Jahr 1153 von Heinrich dem Löwen: »Princeps de Saxonia per
Alemanniam transiens ... in campania Lici fluminis, termino Baioariae, contra
civitatem Augusten-sem ... militem in Italiam iturus collegit« 85.
Darüber hinaus liegen noch weitere topo¬graphische Belege vor: Das
unmittelbar am rechten Lechufer gelegene Waltenhofen (frü¬her
Landgericht Schongau) wird im Weingartner Traditionscodex mit dem Beisatze
»in Bavaria« aufgeführt, dagegen das unweit vom linken Lechufer
gelegene Mertingen (frü¬her Landgericht Donauwörth) in einer
Urkunde Heinrichs V. mit dem Zusatze »in pro¬vincia Suevae« 88
versehen. Graf Mangold von Donauwörth, dessen Güter im 12. Jahr-
___________________
30 Dokumente zur Geschichte von 5taat und Gesellschaft in Bayern. Im Auftrag der
Kommis¬sion für bayer. Landesgeschichte bei der Bayer. Akademie der
Wissenschaften hrsg. v. K. BOSL, Abt. I: Altbayern vom Frühmittelalter bis
1800. Bd. 1: Altbayern bis 1180, bearb. v. K.-L. Ay, 1974,42.
31 Einhardi Vita Caroli Magni, MG 55 11, 449; Annales MG 55 I, 173, vg!. B.
EBERL, Die Un-garnschlacht auf dem Lechfeld (Gunzenl&) im Jahre 955, 1955,
150 Anm. 50 u. 51.
32 MG 55 rer. Mer. 11, 180; Contin. Fredegar u. a.; vg!. B. EBERL, Lechfeld 150
Anm. 44. 33 MG 55 rer. Germ. Liudprandi Antapodosis Lib. 11, 37; frd!. Mitt!. v.
Dr. G. Kreuzer. 34 Otto von Freising, MG 55 XX, 261 H.; EBERL, Lechfeld 145, A.
139.
35 MG 55 XX, 395, EBERL, Lechfeld 156 Anm. 141.
36 Regesta Boica I, 113; HEIGEL/RIEZLER, Herzogtum Baiern, 192 f.
_____________________________________________________________________
55
hundert vor allem im Gebiet der früheren Landgerichte Donauwörth,
Höchstädt, Mon-heim und Nördlingen lagen, wird einmal
»nobilis vir Suevie« genannt 37.
Ferner haben wir aus dem 12. Jahrhundert noch Belege für die Gültigkeit
eines baie-rischen bzw. alamannischen Stammesrechts in Orten des Grenzgebiets: In
»Tegesingen« (Dasing) erfolgte eine Gutsschenkung »Noricorum
lege ultra Licum« an das Augs¬burger Kloster St. Ulrich und Afra 38,
während umgekehrt die Lehensauftragung eines Gutes im schwäbischen
Ostendorf »iure Suevorum« an das östlich des Lechs, im
Bayerischen gelegenen Klosters Polling vorgenommen wurde 30. Die Frage, ob die
öst¬lich des Lechs gelegenen zahlreichen Herrschaften und Güter
Welfs VI. (t 1191) vom baierischen Stammesherzogtum eximiert waren, hat
seinerzeit Riezler eingehend abge¬handelt. Er ist zum Schluß gekommen,
daß dies wahrscheinlich nicht der Fall war 40. Augsburg selbst ist
schließlich mehrmals im 12. Jahrhundert als »celebris civitas«,
ja so¬gar einmal als »metropolis Suevie« bezeugt 41. Im 13.
Jahrhundert (für 1235) ist sie des Kaisers Stadt und ständige Bleibe
»in Alemanniam« 42. 1158 nennt sie Otto von Freising antikisierend,
wie bereits vor ihm Widukind, »Rhaetiae civitas« 43.
Die Tatsache, daß im 13. Jahrhundert der Lech auch zur Grenze des
wittelsbachi¬schen Landesfürstentums wird, die Stammesgrenze im
großen und ganzen als Territo¬rialgrenze weiterbesteht, kann hier nur
angedeutet, aber nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend hierfür war der
Anfall des Andechser Besitzes 1248, vor allem aber dann des sog. konradinischen
Erbes am Lechrain 1268 an die Wittelsbacher, das sie auch zu Herrschaftsinhabern
im Gebiet westlich des Lechs werden ließ, wie beispielsweise in Lauingen,
Höchstädt, Donauwörth, Schongau und in den
»schwabseits« gelegenen Orten des Landgerichts Landsberg 44.
Wir haben die Quellen über die Stammesgrenze deswegen so ausführlich,
vielleicht ermüdend ausgebreitet, weil ihre Aussage seit dem 6., zumindest
jedoch seit dem 8. Jahr-hundert von seltener Eindeutigkeit ist. Die politische
Stammesgrenze ist deswegen im Bayerischen Geschichtsatlas für 788 zu Recht
am Lech eingezeichnet 44a. Diese klare Sprache der Quellen sollte auch bei der
wissenschaftlichen Kontroverse zwischen Prinz und Kraus, die derzeit in den
»Blättern für deutsche Landesgeschichte« über die
innere Struktur des bayerischen Herzogtums in der Frühzeit ausgetragen wird,
nicht außer acht gelassen werden. Auch wenn zuzugeben ist, daß der
Westen Baierns bis zum Lech hin mehr die Domäne von bisweilen frankophilen
Hochadelsgeschlechtern wie z. B. der Huosi war, so ist nicht zu übersehen,
daß diese nur mit Zustimmung des Baiernherzogs Güterveränderungen
vornehmen konnten. Auch die legendäre Beteiligung Herzog Tassi-
__________
37 Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Alte
Folge 1, 300. 38 MB 22, 29 f.
39 MB 10,22 f., vgl. OEFELE, Hausengau (wie Anm. 22). 40 HEIGEL/RIEZLER,
Herzogtum Baiern, 193 H.
41 EBERL, Lechfeld 158 f. Anm. 164; Ekkehardi Chron. ad. a. 1107, MG 55 VI, 241.
42 EBERL, Lechfeld 159 Anm. 185.
43 MG 55 XX, 427; EBERL, Lechfeld 156 Anm. 142; MG 55 rer. Germ. V, 110; EBERL,
Lech¬feld, 154 Anm. 93.
44 Vgl. Historischer Atlas Landgerichte Landsberg und Schongau (wie Anm. 2). 44a
Karte Nr. 14.
_________________________________________________________________________
56
[56] -los III. an der Gründung der am östlichen (bayer ischen) Lechrain
gelegenen Klöster Pol¬ling, Wessobrunn und Thierhaupten hat im Lichte
unserer Quellen einen größeren Grad an Wahrscheinlichkeit.
Von der herrschaftlich-politischen Situation her gesehen ist es auffällig,
daß für die frühen Jahrhunderte keine Nachrichten über
irgendwie geartete kriegerische Auseinan-dersetzungen zwischen Baiern und
Alamannen vorliegen. Die alamannischen Herzöge treten kaum im Raum zwischen
Iller und Lech auf: die Gründe hierfür liegen auf der Hand und brauchen
nicht ausgeführt zu werden. Für das 8. Jahrhundert hat E. Klebel
hingegen enge verwandtschaftliche Beziehungen der Herzogshäuser beider
Stämme nach¬gewiesen. Dieser Befund, der nicht nur eine zufällige
Quellenlücke darstellt, gibt zu wei¬teren überlegungen Anlaß.
Wir haben im 8. Jahrhundert, wie bereits ausgeführt, Quel-len, die von
Auseinandersetzungen zwischen Franken und Baiern am Lech berichten. Daß der
alamannische Raum von Anfang an keine herrschaftliche Einheit war - es gab immer
mehrere Herzöge - und unter stärkerem fränkischen Einfluß
als der baierische stand, hat zuletzt die Dissertation von B. Behr mindestens als
Hypothese nochmals auf¬gezeigt 45. Beschränken wir uns auf den
alamannischen Grenzraum gegenüber Baiern: hier wissen wir aus Andeutungen
späterer Quellen, daß König Dagobert 1. zu Beginn des 7.
Jahrhunderts an der Neu- oder Wiederbegründung der Augsburger Bischofskirche
be¬teiligt gewesen sein muß. Die jüngsten, von Joachim Werner
ausgewerteten Ausgrabun¬gen bei St. Ulrich und Afra zu Augsburg stellen
für die Zeit um 700 den fränkisch-bur¬gundisehen Einfluß
einwandfrei unter Beweis 48. Ob es schon von Anfang an, also seit der Ausdehnung
der fränkischen Herrschaft über die Alamannen, so etwas wie eine
be¬wußte »staatsfränkische Kolonisation« insbesonders
im Raum zwischen Iller und Lech, gegeben hat, - so wie sie Richard Dertsch
aufgrund der Ortsnamendeutung für den Kaufbeurer Raum im 8. Jahrhundert
nachweist - ist eine Spekulation, der eine gewisse Berechtigung nicht
abgesprochen werden kann 47. Es hat in vielem den Anschein, daß die
Lechgrenze bis zum 8. Jahrhundert politisch eher eine
»fränkische« Grenze zwischen dem mehr unter fränkischer
Oberhoheit stehenden alamannischen Raum und dem relativ selbständig oder nur
in lockerer Abhängigkeit von den Franken befindlichen baierischen Herzogtum
gewesen ist. Diese Ansicht wird übrigens auch neuerdings von der
Mundart¬forschung her gestützt, die von frühen
»Frankonisierungsvorgängen« im Alamannischen spricht - wir
werden unten noch darauf zurückkommen.
Damit ist auch ein Hinweis für die Frage nach der Entstehung der
herrschaftlich-po-litischen Stammesgrenze überhaupt gegeben, von der. wir
aber immerhin wissen, daß sie kaum vor 500 entstanden sein kann. Meines
Erachtens ist es nicht ausgeschlossen, daß im Zusammenhang mit der Aufnahme
der geschlagenen Alamannen durch Theoderich in das raetische Gebiet seit 500 -
und der vielleicht gleichzeitig vor sich gehenden Ansied¬lung der Baiovarii =
Leute aus Böhmen - der Lech als Grenze ausgewiesen wurde. Das östlich
des Lechs gelegene Gebiet der Raetia Secunda wäre damit den
»Baiern« zugeteilt
_____________
45 B. BEHR, Das alemannische Herzogtum bis 780, 1975.
46 J. WERNER, (Hrsg.) Die Ausgrabungen in St. Ulrich u. Afra in Augsburg
1961-1968, 2 Bde. 1977, und VOLKERT-ZOEPFL, Die Regesten der Bischöfe und
des Domkapitels von Augsburg I, 1955,11.
47 R. DERTscH, Historisches Ortsnamenbuch v. Bayern, Landkreis Kaufbeuren,
1960.
________________________________________________________________________
57
worden, als deren Kernraum ja noch im Hochmittelalter das Land der ehemaligen
Pro-vinz Noricum angesehen wurde 48. Daß in spätrömischer Zeit
mit derartigen Grenzzie-hungen zu rechnen ist, zeigt beispielsweise der Bericht
von Jordanes in seiner Romana (um 551) für das Jahr 217: »Die
Markomannen wurden in jenem Valeria, das zwischen Drau und Donau liegt, von dem
gleichen Führer damals geschlagen und die Grenzen zwischen Römern und
Barbaren ab Augsburg (Augusta Vindelicas) durch Noricum und Mösien
festgelegt« 49. Es ist allerdings auch daran zu denken, daß die
Grenzziehung erst unter fränkischer Herrschaft seit etwa 537 erfolgt sein
könnte, wobei bereits an das stra-tegische Moment der Paßsicherung
(Brenner- bzw. Fern-, Reschen/Scheidegg-Paß) nach Italien zu denken
wäre. König Theudebert I. griff ja damals mit seinen
Herrschaftsan-sprüchen bis nach Pannonien aus, wenn wir seinem Brief an den
oströmischen Kaiser Glauben schenken dürfen.
Dieser Ansicht, wie überhaupt der Auffassung vom Lech als früher Grenze
zwischen Baiern und Alamannen, widerspricht nun am stärksten der Verlauf der
Augsburger Bistumsgrenze, die weit über den Lech nach Nord- und
Südosten lappenförmig vor¬springt, nur in der Mitte vom Freisinger
Bistumsgebiet etwas eingeschnürt 60. Sie verläuft nachweislich seit
1500, wie die Karte 26/27 von G. Diepolder im Bayerischen Geschichts-atlas zeigt,
entlang einer Linie von Ingolstadt südlich bis in die Nähe von
Altomünster,¬wo die Freisinger Diözese am weitesten nach Westen
ausgreift -, um von hier aus wie¬der über den Starnberger See zur oberen
Isar und Loisach weit östlich in den bayer ischen Raum vorzustoßen,
die ehemaligen Klöster Benediktbeuern, Habach, Wörth im
Staffel¬see, Polling der Diözese Augsburg zuteilend, ebenso das in der
Ungarnzeit untergegange¬ne Kloster Sandau bei Landsberg, dessen karolingische
Grundmauern in diesem Jahre (1977) ausgegraben wurden. Freisingische Enklaven
sind das Stift Scharnitz-Schlehdorf und zum Teil auch das Archidiakonat
Rottenbuch.
Kirchliche Verwaltungsgrenzen haben die Forschung deswegen intensiv
beschäftigt, weil man glaubte, daß sie ein hohes Alter aufweisen und
bisweilen ältere weltliche Grenz-ziehungen, an die sie sich angelehnt haben,
bewahrt haben. Im Falle von Augsburg spielt dabei nach E. Klebel die Frage nach
der Fortdauer eines spätrömischen Bistums, seine Missionstätigkeit
auf baierischem Boden und das Problem der ursprünglichen Grenzzie-hung
zwischen Alamannen und Baiern eine wichtige Rolle 61. K. Reindel hat zuletzt
für die baierischen Bistümer die Feststellung getroffen, daß
,.von der kirchlichen Organisa¬tion der römischen Provinzen Noricum und
Raetien zu der des mittelalterlichen Her¬zogtums Bayern kein Weg
führt« 62. Was Augsburg betrifft, so läßt sich seiner
Meinung nach ein spätrömisches Bistum nicht eindeutig nachweisen, doch
machen ,.Größe und Be¬deutung der Provinzhauptstadt der Raetia
secunda, die frühchristliche Taufanlage süd¬lich des Doms und die
Entdeckung einer frühchristlichen Basilika unter der St. Gallus-
______________
48 Vgl. zum Ganzen K. REINDEL, Die Herkunft der Bayern (Handbuch der bayer.
Geschichte Bd. I) 3. verb. Nachdruck 1975, 84 H. (künftig HBG).
49 Zitiert nach F. WAGNER in: Bayerischer Vorgeschichtsfreund VII,
1921/22,57.
50 Zur Entstehung der Augsburger Bistumsgrenze gegenüber Freising vgl.
KLEBEL, Kirchliche und weltliche Grenzen (wie Anm. 24).
51 Wie Anm. 50, S. 192.
52 HBG I, 146 f.
_______________________________________________________________________
58
Kapelle das Bestehen eines antiken Bischofssitzes wahrscheinlich«. Ob
dieses allerdings die Völkerwanderungszeit überdauert hat, ist sehr
ungewiß; das Problem des »Flucht¬binUfiis« Säben, das
R. Heuberger angerissen hat, kann hier nur angedeutet, nicht erörtert werden
S8. Jedenfalls bestand oder wurde zu Beginn des 7. Jahrhunderts eine
Augsbur¬ger Bischofskirche neu oder wieder begründet.
Eine Kontinuität der späteren Augsburger Bistumsgrenzen mit denjenigen
eines spät¬antiken römischen Bistums Augsburg und eines
»pagus« Augsburg läßt sich wohl nie durch Quellen
nachweisen; in gleicher Weise ist nicht zu belegen, daß der seit dem 8.19.
Jahrhundert genannte »Augstgau« 64, dessen Gebiet sich zu bei den
Seiten des Lechs um Augsburg erstreckt hat, auf den spätrömischen Pagus
zurückgeht. Auszuschließen ist die Kontinuitätstheorie jedoch
nicht ganz, vor allem, wenn man in Erwägung zieht, daß in und um
Augsburg sich eine römische Restbevölkerung und damit vielleicht auch
ein Rest von spätrömischer Staatsorganisation erhalten hat, die unter
Theoderich oder dem Frankenkönig Teudebert I. wieder neu belebt worden sein
könnte. Das würde bedeuten, daß der Augsburger Raum analog dem
Viktoriden-Staat in Churraetien S5 zunächst un¬ter direkte ostgotische
und dann fränkische Herrschaft kam und erst später, im 7. oder 8.
Jahrhundert zwischen Baiern und Alamannen an der Lechlinie geteilt wurde. Dieser
These widersprechen allerdings die äußerst dürftigen Zeugnisse
für eine Kontinuität im Flachland-Raetien, vor allem, wenn man zum
Vergleich die ganz anders gelagerten Ver¬hältnisse in Noricum,
Churraetien oder in der Maxima Sequanorum heranzieht.
Die Ausdehnung des Augsburger Bistumssprengels über den Lech nach Osten hin
wird in einen engen Zusammenhang mit einem im 8. Jahrhundert erscheinenden Bistum
Neuburg bzw. Staffelsee gebracht, dessen Geschichte schon seit dem 18.
Jahrhundert äu¬ßerst kontrovers ist 56. Während R.
Bauerreiß S7 in bei den ein einziges spätantikes Klo¬sterbistum
auf einer Insel im Staffelsee sieht, ist E. Klebel 58 der Ansicht, daß es
sich hier um zwei Bistümer handelte: um ein Bistum im Sualafeld mit Sitz in
Neuburg an der Donau, das um 743 im Zuge der karolingischen Expansionspolitik
gegründet wurde, und um ein Klosterbistum auf der Insel im Staffelsee, das
auf spätantike Wurzeln zu-
___________
53 R. HEUBERGER, Rätien im Altertum und Frühmittelalter. Forschungen
und Darstellung I (SchIernschriften 20) 1937.
54 Vgl. E. KLEBEL, Kirchliche und weltliche Grenzen (wie Anm. 24) 206. Es
existieren nur 3 Be¬lege für die Jahre 760/70, 888 und 1078. Ferner
KLEBEL, Bayern und der fränkische Adel im 8. und 9. Jahrhundert
(Vorträge und Forschungen Bd. 1) 1952, Neudr. 1970,207.
55 O. P. CLAVADETSCHER, Die Einführung der Grafschaftsverfassung in
Rätien und die Klage¬schriften Viktors IH. v. Chur (Zeitschr. d.
Sav.-Stiftung f. Rechtsgesch., Kan. Abt. 39) 1953, 46-111; DERs., Zum
churrätischen Reichsgutsurbar aus der Karolingerzeit (Schweizerische
Zeit¬schrift für Geschichte 2) 1952, 161-192.
56 Zur Forschungskontroverse vgl. P. BRAUN, Gesch. der Bischöfe von Augsburg
I, 1813, 82 f., 114, 120 H.; E. KLEBEL, Kirchliche und weltliche Grenzen (wie
Anm.24) 192 H., 199 f., 240 f.; R. BAUEREISS, Kirchengeschichte Bayerns, Bd. I,
2. überarbeitete und erw. Auflage 1974, 6 H. (dort weitere Literatur); F.
ZOEPFL, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter I, 1956,31 H.,
und VOLKERT-ZOEPFL, Die Regesten der Bischöfe u. des Domkapitels von
Augsburg I, 1955, 5, 15 u. H.; VOLKERT-ZOEPFL Regesten I, 1955, 20 H., 26 f.;
zuletzt K. REINDEL (HBG I) 168 H.; St. Simpert, Bischof v. Augsburg (JbVAB 12)
1978, 168 u. 181 H.
57 BAUEREISS (wie Anm. 56) 6.
58 KLEBEL (wie Anm. 24) 242.
__________________________________________________________________________
59
rückgeht und die Seelsorge über die dort sitzenden Romanen
ausübte. F. Zoepfl59 sprach sich, obgleich gebürtiger
»Staffelseer« aus Murnau, für ein einziges Bistum mit Sitz in
Neuburg a. d. Donau aus, das das gesamte rechtslechische Gebiet der Diözese
Augsburg umfaßte. Er erklärte die Gründung des Bistums damit,
daß auf Betreiben des baierischen Herzogs Odilo, der um die
Selbständigkeit seines Herzogtums sehr besorgt sein mußte, 744 -
vielleicht auch schon im Zusammenhang mit der bonifazianischen
Bistumsorganisation von 739 - von Papst Zacharias sämtliche rechtslechischen
Gebiets-teile vom Bistum Augsburg abgetrennt und unter einem eigenen
»ausgesprochen bayeri-schen Landesbisturn« verselbständigt
wurden: Eine Ansicht, die bereits im 18. Jahrhun-dert von einem Münchner
Akademiemitglied vertreten worden ist. Klebel ist hingegen der Ansicht, daß
Augsburg für die kirchliche Organisation Baierns überhaupt nichts
bei-getragen hätte; seine Grenzen hätten vor dem Ausgang des 8.
Jahrhunderts den Lech nicht überschritten 60. Während die wenigen, aus
der Zeit vor 800 vorhandenen Quellen also sehr widersprüchliche
Interpretationen zulassen, steht für die Zeit zwischen 801 und 807 fest,
daß Bischof Sintpert von Augsburg, der sowohl als »ecclesiae
Niuuinburgcensis provincie Bajuariorum episcopus« und einmal auch als
»Stafnensis aecclesiae episcopus« erscheint 61, im Auftrag Karls des
Großen und mit Einwilligung Papst Leos IH. »parro-chiam vero ambarum
partium Lici fluminis ... coadunavit« 62. Es ist also nur von den bei den
Teilen der Diözese die Rede. Deswegen hat immer noch die These des
Augsburger Benediktiners Placidus Braun (1813) einiges für sich, daß
Bischof Sintpert von Augsburg sich nur nach seinen zeitweiligen Sitzen
»Neuburg« und »Staffelsee« genannt habe 63. Sein Wunsch
nach Wiedervereinigung der beiden Bistumsteile 798 hätte nur die
Unter¬stellung des rechtslechischen Teils des Bistums unter den Mainzer
Metropolitansprengel, zu dem Augsburg seit dem 7. Jahrhundert gehörte, bei
der Errichtung des salzburgisch¬bayerischen Metropolitenverbandes durch Karl
d. Großen sicherstellen sollen.
Mit der Diskussion um die »Bistümer« Neuburg oder/und Staffelsee
hängt eng die Frage nach der Rolle des im 8. und 9. Jahrhundert bezeugten
Huosigaus als Ursprung für die genannten Bistumssprengel wie als Ursache
für das Ausgreifen des Bistums Augs¬burg über den Lech nach Osten
zusammen 64. Die Huosier lassen sich als adelige Grund¬herren zwischen Lech
und Isar von den Tälern der Ilm und Glonn bis hin zu den Alpen im 8.
Jahrhundert nachweisen; die Gründer der Klöster Benediktbeuern und
Scharnitz-Schlehdorf werden diesem Geschlecht zugerechnet. Daß eine sehr
frühe und enge Bezie-hung dieser baierischen »genealogia« der
Lex zu Augsburg bestanden haben könnte, ist wahrscheinlich, wenn man
bedenkt, daß Augsburg bis ins 8. Jahrhundert nur das einzige
____________
59 F. ZOEPFL (wie Anm. 56), 32 f. E. KLEBEL, Bayern und der fränkische Adel
im 8. und 9. Jh. (Vorträge und Forschungen I) 1952,207 f.
60 KLEBEL (wie Anm. 24), 241, 244,253.
61 VOLKERT/ZOEPPL, Regesten I Nr. 15 u. 16 (für 799/800). 62 VOLKERT/ZOEPFL,
Regesten I Nr. 17.
63 Wie Anm. 56; Reindei schließt sich jedoch weitgehend der Ansicht Zoepfls
an.
64 über die Huosi und den Huosigau vgl. REINDEL (HBG I) 83, 157 f.; KLEBEL,
Kirchliche und weltliche Grenzen (wie Anm.24) 206; Klebel ist der Ansicht,
daß der Huosigau um 800 kirchlich der Diözese Augsburg angegliedert
wurde (5.254), nachdem seine Nordhälfte an Freising gekom¬men war
(5.217,244); FRIED/HIERETH (wie Anm. 2), 16 f.
_______________________________________________________________________
60
größere Bistum des Raumes war. Wenn man den Augstgau als Grundlage
für das unmit-telbar östlich Augsburgs vorgelagerte Bistumsgebiet
heranzieht, so müßte dies auch für den taschenförmig
ausbuchtenden Raum des Huosigaus südöstlich da von gelten.
Insgesamt spricht sehr vieles dafür, daß der Augsburger
Bistumssprengel seit Anfang an über den Lech in das bayerische Gebiet
gereicht hat. Die These Klebels von der ur-sprünglichen Lechgrenze als
Augsburger Bistumsgrenze ist zu einseitig unter dem bayer i-sehen Blickwinkel
gesehen. Die Bistümer Neuburg und Staffelsee sind im übrigen
frühe-stens erst seit der Mitte des 8. Jahrhunderts nachweisbar,
während das Bistum Augsburg schon mindestens ein Jahrhundert vorher bestand.
Der Augsburger Bischof Wikterp ist um die Mitte des 8. Jahrhunderts bereits
für den Benediktbeurer Raum zuständig 65, was Klebel selbst zugibt 66.
Der beträchtliche Grundbesitz nach den "Brevium exempla« um 800, der
dort der Augsburger Bischofskirche gehört, spricht wohl auch für eine
ursprüngliche Verbindung mit Augsburg, wenngleich allerdings der Zustand
nach der Wiedervereinigung bereits wiedergegeben sein könnte 67.
Nicht weniger problematisch ist die These Klebeis, Augsburg sei 625/30 als
Missions-bistum für Baiern, das damals bis zur Iller gereicht haben soll,
von Dagobert I. begrün¬det worden; erst Karl Martell hätte das
Bistum um 725 endgültig an Schwaben zuge¬teilt 68. Das Gegenteil
dürfte eher der Fall gewesen sein: Das Bistum Augsburg wird in erster Linie
- analog zum Bistum Konstanz 69 - für die Missionierung der dort zu
bei¬den Seiten des Lechs sitzenden Alamannen als Bistum errichtet worden
sein. Das relativ häufige Martins-Patrozinium der Augsburger Urpfarreien
weist eindeutig auf frühere fränkische Missionstätigkeit hin 70.
Im 8. Jahrhundert erfolgt dann die bekannte Zusam¬menarbeit zwischen dem
Augsburger Bischof Wikterp mit dem Mönch Magnus aus dem Kloster St. Gallen
zur Missionierung des Allgäuer Raumes 71. Sicherlich ist es richtig,
daß die Ostgrenze des Augsburger Bistums gegen Osten noch lange Zeit offen
war, im Gegensatz zur Westgrenze, die seit der Gründung des Bistums Konstanz
wohl immer schon an der Iller verlief72. Eine erste Abgrenzung im Osten, die zum
heutigen Verlauf führte, könnte im Zusammenhang mit der
bonifazianischen Bistumsorganisation 738/42 in Baiern erfolgt sein, als das
Nachbarbistum Freising eingerichtet wurde. Doch haben gerade hier, wie Klebel
gezeigt hat 73, die Grenzen bis zum ausgehenden 11. Jahr-
_____________
65 MG SS 9, 214 und VOLKERT-ZOEPFL, Regesten I, Nr. 3.
66 KLEBEL, Kirchliche und weltliche Grenzen (wie Anm. 24) 241. 67 MG Capit. I
250-252.
68 KLEBEL (wie Anm. 24) 192,253.
69 H. TÜCHLE, Kirchengeschichte Schwabens, 2 Bde., 1950/54, hier Bd. I 65
H.; TH. MAYER, Konstanz u. St. Gallen in der Frühzeit (Schweiz. Zeitschrift
für Geschichte 2. Jgg.) 1952, 473-524.
70 FRIED/HIERETH (wie Anm. 2) 17.
71 VgI. F. ZOEPFL, Bistum Augsburg (wie Anm. 56).
72 Sie wird auf kgI. Schiedsspruch zurückgeführt. VgI. F. L. BAUMA!l:N,
Gesch. d. Allgäus I, 1881, 90; Weiterhin: Schwaben und Schweiz im
frühen und hohen Mittelalter. Gesammelte Auf¬sätze von Heinrich
Büttner hrsg. v. H. Patze (Vorträge und Forschungen Bd. XV) 1972; H.
BÜTTNER, Die Entstehung der Konstanzer Diözesangrenzen (Zeitschr. f.
Schweiz. Kirchenge¬schichte 48) 1954, 225 H.
73 KLEBEL, Kirchliche und weltliche Grenzen (wie Anm. 24) 200.
_______________________________________________________________________
61
hundert in einzelnen Teilbereichen noch sehr geschwankt. Erst seit dieser Zeit
hat die Ostgrenze wohl den Verlauf, wie er aus den frühen Freisinger und
Augsburger Bistums¬matrikeln im 14. und 15. Jahrhundert zu ermitteln ist
74.
Alles in allem: die Erforschung der interessanten Ostgrenze des Bistums Augsburg
weist je nach ihren Vertretern kontinuitäts- und bistumsbetonte,
stammesbaierische, staatsbayerische, westbayerisch-huosigauische oder
alamannisch-schwäbische Akzente auf. Wahrscheinlich ist, daß das
rechtslechische Gebiet von Anfang an zum Bistum Augsburg gehörte; ein
ursprünglicher Bistumssitz Augsburg an der äußersten Grenze
sei¬nes Sprengels wäre kaum erklärbar, was indirekt auch Klebel
zugibt. Die Grenze scheint lange Zeit gegen Osten hin offen gewesen zu sein, vor
allem in einer Zeit, als Baiern noch keine Bistumsorganisation hatte. Vermutlich
ist eine Hauptaufgabe des Augsburger Bistums die Missionierung der im Umland
siedelnden Alamannen gewesen - auch derje¬nigen rechts des Lechs - wie es uns
die folgenden Erörterungen über die Mundart- und Siedlungsgrenze
wahrscheinlich machen.
II. Die Mundart-, Siedlungs- und Volkstumsgrenze
In der Diskussion über die Herkunft der Baiern wird allgemein eine
alamannische Vorbevölkerung und eine alamannische Siedlung im später
baierischen Gebiet angenom¬men 75. Es gibt hierfür archäologische
Zeugnisse, die allerdings noch sehr sporadisch sind - es handelt sich nach H.
Zeiss 76 und Ursula Koch 77 um Gräber mit "alamannischem« Beigabengut
bei Irsching und Irlmauth in der Nähe von Regensburg, so dann den
be¬kannten Bericht vom Auftauchen des Herzogs Gibuld um 480 mit einem
alamannischen Stammesheer vor Passau in der Vita Severini 78, und
schließlich einige "Schwaben-Orts¬namen« östlich des Lechs -
die These von Helbok, daß alle ing- bzw. ingen-Orte auf alamannische
Siedlung hinweisen, ist nicht zu halten 79. Als wichtigstes Indiz für die
alamannische Vorbevölkerung gilt jedoch der Verlauf der
baierisch-schwäbischen Mund¬artgrenze, genauer gesagt, der
Ausdehnungsbereich der alamannischen Dialekteinschlä¬ge im Gebiet
östlich des Lechs. Die schwäbisch-baierische Mundartgrenze wurde bisher
______________
74 V gl. Bayer. Geschichtsatlas, 1969, Karte 26/27; Kirchliche Organisation um
1500, von G. DlEPOLDER.
75 (HBG I) 31975, 79, 90; G. J. WAlS, Die Alemannen in ihrer Auseinandersetzung
mit der römi-schen Welt, 1943, 38 f. Anm.2 (Lit.!), 116, 236; H. ZEISS,
Alemannische Gräber bei Irsching (Obb.) (Germania 11) 1927, 132-137.
76 Nach ReindeI (HBG I) 83 glaubt man, eine »alemannische
Vorbevölkerung ... aus archäolo-gisehen ... Notizen«
erschließen zu können.
77 U. KOCH, Die Grabfunde der Merowingerzeit aus dem Donautal um Regensburg
(Germ. Denkmäler d. Völkerwanderungszeit A 10) 1, 1968.
78 Vgl. Quellen zur Geschichte der Alamannen Bd. I u. 11, übersetzt von C.
DlRLMEIER, durch-gesehen und mit Anmerkungen versehen von G. GOTTLIEB
(Heidelberger Akademie der Wissen-schaften, Kommission für Altertumskunde,
Schriften Bd. 1 u.3), 1976 bzw. 1978.
79 A. HELBOK, Grundlagen der Volks geschichte Deutschlands und Frankreichs I,
1937, 309-314; B. EBERL, Die bayer. Ortsnamen als Grundlage der
Siedlungsgeschichte (Bayer. Hei¬matbücher 2) 1925/26, bs. S. 61 H.
___________________________________________________________________________
62
vor allem von Bruno Schweizer, Eberhard Kranzmayer, Karl Bohnenberger, Eduard
Nübling, Georg Moser und zuletzt von R. Freudenberg eingehend erforscht. Den
aktuel¬len Forschungsstand vermittelt der Beitrag von Ingo Reiffenstein im
Handbuch der bayerischen Geschichte 80, auf den wir uns im wesentlichen
stützen.
Darnach bildet zwar der Lech »eine sehr deutlich ausgeprägte
Mundartgrenze - eine der schärfsten im deutschen Sprachgebiet überhaupt
- dennoch ist ihm östlich bis gegen Schrobenhausen, München und
Tegernsee ein übergangsgebiet vorgelagert, das deutlich schwäbische
Spuren zeigt (schis). Diese alamannische Unterschichtung findet im Süden
(tirolisches Oberinntal) und im Norden (Ries, Altmühl-Rezat-Gebiet) ihre
Fortsetzung und wird bis in die Siedlungszeit zurückreichen« 81.
Insbesondere weist der Raum süd¬östlich von Augsburg zwischen dem
Lech auf der einen und der Linie Paar-Ammersee¬Staffelsee auf der anderen
Seite einen noch stärkeren schwäbischen Mundarteinschlag auf. Er ist
vor allem gekennzeichnet durch das helle schwäbische »a«, die
schwäbische Nachsilbe »a« und die Verbreitung des
schwäbischen »Aftermenta« für Dienstag. E. Nübling hat
in seiner Mundart- und Stammeskarte im Historischen Atlas von
Baye¬risch-Schwaben dieses Gebiet dem Ostschwäbischen zugeteilt 82. In
vielen Atlanten findet sich diese Grenze deswegen auch als politische
Stammesgrenze eingezeichnet. Wenngleich diese bisweilen als Ergebnis des
jahrhundertelangen Einflusses schwäbischer Priester der Diözese
Augsburg im altbayerischen Gebiet erklärt wurde, so zweifelt heute niemand
mehr daran, daß wir es mit schwäbischen Mundartformen zu tun haben,
die bis auf die frühe Siedlung zurückgehen. Auch die These, daß
die schwäbischen Dialektimmissionen erst durch einen
Bevölkerungstransfer innerhalb der welfisch-staufischen
Herrschafts¬gebiete im 11. und 12. Jahrhundert zustandegekommen seien, ist
von der Sache her nicht zu halten, zumal wir hierfür in den Quellen nicht
den geringsten Anhaltspunkt haben. Hingegen ist zu berücksichtigen,
daß das Schwäbische in diesem Raum ursprünglich wohl noch
stärker und ausgeprägter gesprochen worden sein dürfte, wenn man
an die jahrhundertelange territoriale Zugehörigkeit des bayerischen
Lechraingebietes vom 13. bis zum 18. Jahrhundert zum Herzogtum und
Kurfürstentum Bayern denkt, was nach den neuen Erkenntnissen der
Mundartforschung sprachlich nicht ganz ohne Auswirkung geblieben sein kann.
Reiffenstein ist sogar der Ansicht, daß auch noch das
Ostschwäbi¬sche zwischen Iller und Lech, wegen seiner Randlage
gleichfalls eine sprachliche Relikt-landschaft mit eigengeprägten Formen,
von baierischen Sprachmerkmalen überlagert worden sei. Es deckt sich seiner
Ansicht nach in auffälliger Weise mit den Grenzen der alten Diözese
Augsburg 83.
Zweifellos haben sich im Raum zwischen Lech und Ammersee wegen seiner Grenzla-ge
noch altertümlichere Sprachrelikte - (sog. Barrierenrelikte) - bis in die
Gegenwart herein erhalten, so daß bisweilen noch mittelhochdeutsche Wort-
und Sprachformen be¬gegnen, die Anklänge an das Südbaierische und
an das Nordalamannische aufweisen (affriziertes h im Wort inneren = eh!).
80 Bd. IV /2, 1975. 81 (HBG IV/2) 727. 82 Karte S. 9.
83 (HBG IV/2) 727.
________________________________________________________________________
63
Damit ist die entscheidende Frage berührt, ob es bereits zur Zeit der
frühen Siedlung sprachliche Unterschiede zwischen dem
Schwäbisch/Alemannischen und dem Baierischen gegeben hat. Daß solche
im 8. Jahrhundert bestanden haben, kann nach den vorhande¬nen Sprachquellen
nicht bezweifelt werden, auch wenn eine erste genauere topographi¬sche
Fixierung erst im 13. Jahrhundert möglich ist. 1. Reiffenstein hat zuletzt
zwar noch einmal auf die enge Verwandtschaft des baierischen und alemannischen
Dialekts auf¬grund der gemeinsamen west- bzw. elbgermanischen Sprach wurzel
hingewiesen, aber auch den frühen Unterschied betont und erklärt:
»Der Unterschied zwischen dem Baye¬rischen und dem Alemannischen liegt
im Laut- und Formenbestand in erster Linie darin, daß das Alemannische
früher und stärker von Frankonisierungsvorgängen erfaßt
wurde als das Bayerische, obgleich auch dieses nicht frei ist von solchen
schreibsprachlichen Oberschichtungen« 84. Reiffenstein weist weiter auf die
sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Alamannischen und Baierischen einerseits
und dem ebenfalls elbgermani¬sehen Langobardischen andererseits hin:
»Die Gemeinsamkeiten des Germanischen bei¬derseits der Alpen waren im
7. und 8. Jahrhundert vermutlich größer als die zwischen dem
Bayerischen und dem Fränkischen. Daß die starken zentrifugalen
Kräfte im Süden wie im Norden (Sächsisch - Nordisch -
Angelsächsisch) schließlich doch nicht zum Tragen kamen, ist die
geschichtliche Leistung der Franken. Auch sprachlich wäre
»deutsch« nicht möglich geworden ohne die Verklammerung des
bayerischen (und frü¬her schon des alemannischen) Südens und des
sächsischen Nordens durch die Fran¬ken« 85.
Die Existenz einer alamannischen Vorbevölkerung und Siedlung östlich
des Lech bis zur Isar hin, ist, wie bereits angedeutet, bis jetzt allerdings
archäologisch noch nicht hin¬reichend abgesichert, wie es überhaupt
schwierig sein dürfte, den »östlich merowingi¬schen
Reihengräberkreis« vom westlichen, fränkisch-alamannisch
geprägten Typ gleicher Art genau abzugrenzen 88. Auch aus den bisher noch
wenig erforschten Ortsnamen er¬gibt sich kein genauer Hinweis, daß wir
es diesseits und jenseits des Lechs mit gleichen Sippenhäuptern oder
Gefolgschaftsherren in den patronymischen Ing-Orten zu tun ha¬ben. Ein
einziges Beispiel scheint bislang für das bayerische Mering und das
schwäbische Schwabmünchen vorzuliegen, deren ursprüngliche
gemeinsame Form »Mantichingun« lautete 87. Eine Aussage über die
frühen Besitzverhältnisse im Grenzraum sind gleichfalls nur sehr
begrenzt möglich, da das Archiv der Augsburger Kirche am Ende des 11.
Jahr¬hunderts vernichtet worden ist. Die wenigen vorhandenen Zeugnisse lassen
den Schluß zu, daß die Augsburger Hochkirche mit Besitz zu bei den
Seiten des Lechs ausgestattet wurde. Wer die Besitzvorgänger der Welfen
waren, die seit dem 10. Jahrhundert den
_________
84 (HBG IV/2) 710. 85 (HBG IV/2) 710 f.
86 J. WERNER, Die Herkunft der Bajuwaren und der
»östlich-merowingische« Reihengräberkreis (Schriftenreihe
z. bayer. Landesgeschichte Bd. 62) 1962, 229-250.
87 Größere namenkundliche Untersuchungen fehlen. Klebe! nimmt den
westoberbayerischen und mittelschwäbischen -hausen-ürte-Gürtel
für eine bayerische Besiedelung nach 560 in Beschlag, was jedoch ebenso ein
Beweis für alemannische Siedlung sein kann. S. Bayern und der
fränkische Adel im 8. und 9. Jh. (Vorträge und Forschungen I) 1952,207
H.
________________________________________________________________________
64
Lechrain beiderseits des Lechs beherrschen, ist gleichfalls nicht zu erhellen 88.
Obgleich bis zur Säkularisation für bayerische und schwäbische
Grundherrschaften, insbesondere auch von Augsburger Bürgern, der Lech keine
Grenze war 89, so führten doch Gegenre-formation und Absolutismus zu einer
starken Verengung der bisherigen grundherrschaft-lichen Beziehungen, was
insbesonders den Besitz in Adelshand betraf. Der ursprüngliche Welfenbesitz
hat sich jedoch teilweise in den geistlichen Grundherrschaften der Klöster
Rottenbuch und Steingaden beiderseits des Lechs - wie auch der des Hochstifts
Augs¬burg und insbesondere des Reichsstiftes St. Ulrich und Afra - bis 1803
konserviert 90. Die Grundherrschaften waren jedoch, soweit dies bis jetzt zu
überblicken ist, wegen der Streulage der Güter und der geringen
herrschaftlichen Intensität nicht in der Lage, tief-greifendere Unterschiede
oder Gemeinsamkeiten in Sprache und Volkstum zu begrün¬den.
Mit dem dialektologischen Befund ostlechisch-alamannischen MundarteinHusses
dek¬ken sich nun auffälligerweise auch solche aus dem Bereich der
Volkskunde. Der als »oberschwäbisch« gekennzeichnete Einhaustyp
reicht, wie Rudolf Hoferer (1942) ge¬zeigt hat, bis weit vor München und
an die obere Isar hinüber 91. Ober das Alter dieser Hausformenlandschaft
liegen allerdings noch keine historischen Forschungen vor. Inwie-weit deswegen
daraus Schlüsse auf den ursprünglichen alamannischen Volkscharakter der
Bewohner dieses Gebietes gezogen werden können, sei allerdings
dahingestellt.
Bei den Bewohnern zwischen Lech, Paar und Ammersee, also den bayerischen
»Lech-rainern«, wie sie sich selbst nennen, ist ferner noch bis in
die jüngste Zeit herein ein eigenartiges Sonderbewußtsein
festzustellen 92. Daß sie sich als überzeugte Bayern füh¬len,
ist nach der jahrhundertelangen Zugehörigkeit ihres Landes zum Herzogtum und
Kurfürstentum Bayern leicht erklärlich. Doch besteht teilweise heute
noch in der älteren Generation gegenüber den »Baiern«, den
»Bora« des Unterlandes, deren Sprache als schwerfällig und deren
Verhaltensweise oft als rauh und grobschlächtig betrachtet wird, ein
ausgeprägtes Distanzbewußtsein. Als gebürtiger bayerischer
»Lechrainer« könnte ich einiges davon erzählen, doch
würde dies zu sehr in den Bereich des Volkskundlichen hinüberspielen,
für den hier nur auf das klassische Werk von Karl Freiherr von Leo-prechting
»Aus dem Lechrain« 93 verwiesen werden kann. Jedenfalls scheint auch
aus
_______________
88 J. FLECKENSTEIN, über die Herkunft der Welfen und ihre Anfänge in
Süddeutschland (Stu¬dien und Vorarbeiten zur Geschichte des
großfränkischen Adels, hrsg. v. G. TeIlenbach) 1957, 71-136.
89 FRIED/HIERETH (wie Anm. 2), 16 H.
90 P. FRIED, Studien zur Grundherrschaft des Augustinerchorherrenstifts
Rottenbuch (900 Jahre Rottenbuch, hrsg. v. H. Pörnbacher) 1974,72-82.
91 R. HOFERER, Die Hauslandschaften Bayerns (Bayerisch-Südostdeutsche Hefte
für Volks¬kunde) 1942; T. GEBHARD, Wegweiser zur Bauernhausforschung in
Bayern (Bayer. Heimat¬forschung H. 11) 1957.
92 Eigene Erkundungen. Vgl. P. FRIED, Die Mundart im Landkreis Landsberg
(Heimatbuch Stadt-und Landkreis Landsberg) 1966, 299-302. S. HOFMANN,
Altbaiern-Lechrainer-Schwaben (Lech-Isar-Land 1973) 154 H.; W. KÖNIG,
Mundart (Heimatbuch Schwabmünchen) 1974, 343 H. 93 1855 erstmals erschienen,
1977 wiederum neu aufgelegt.
_________________________________________________________________________
65
dem Volksbewußtsein im Lechrainer Reliktgebiet viel für eine
ursprüngliche alamanni-sche Besiedlung zu sprechen, die allerdings schon
früh, seit dem ausgehenden 6. Jahrhun-dert herrschaftlich-baierisch
überschichtet wurde, ihre Eigenart aber zäh bis in die
jüng¬ste Gegenwart erhalten hat, in der sie allerdings im Verschwinden
begriffen ist.
III. Zusammenfassung der Ergebnisse
Es muß hier abgebrochen werden im Bewußtsein, daß vieles nur
summarisch und vereinfachend dargestellt werden konnte, was in den
Einzeldisziplinen Gegenstand subti-ler Einzelforschung ist. Eine Reihe von
Problemen wie z. B. die naturräumlich-geogra-phischen Voraussetzungen
konnten überhaupt nicht oder ganz am Rande berührt wer-den. Ziel des
Vortrages war jedoch weniger die Darbietung von Einzelforschung als viel-mehr der
Versuch, durch Zusammenschau der Methoden und Befunde der einschlägigen
Fächer zu einem vorläufigen Gesamtbild der Entstehung und
Frühgeschichte der ale-mannisch-baierischen Lechgrenze beizutragen, das in
etwa den gegenwärtigen For-schungsstand wiedergibt. Daß es in vielem
noch unvollkommen ist und er,st im interdiszi-plinären Gespräch weiter
ausgeformt werden muß, ist sich niemand mehr bewußt als der
Vortragende selbst. Doch versuchen wir abschließend einige Grundtatsachen
als Ergeb-nisse unserer Studie anzuführen, die vielleicht Ansätze
für Diskussion und weitere For-schung bilden können:
1) Unter naturräumlicher Sicht kann der Lech durch seinen breiten
ödlandstreifen bis zu einem gewissen Grad eine »natürliche«
Grenze zwischen West und Ost bilden 94. Sie kam nicht zum Tragen, solange
Kräfte von Süden und Norden sich gegenüber¬standen, wie dies
zur Römerzeit der Fall war. Dies änderte sich nach der
Völkerwan¬derung, als Franken, Alamannen und Baiern sich in
östlich-westlicher Richtung be¬gegneten. Hier bot sich der Lech für
eine herrschaftlich-politische Grenzziehung an.
2) Diese liegt nach der eindeutigen Aussage der Schriftquellen als politische
Stammes-grenze (Herzogtumsgrenze) zwischen Alamannen und Baiern seit dem 6.,
spätestens jedoch seit dem 8. Jahrhundert fest, wobei besonders zu beachten
ist, daß sie bis 788 ihrer Funktion nach eher eine Grenze zwischen dem
stärker fränkisch beeinflußten ostalemannischen Gebiet und dem
relativ selbständigen, östlich und langobardisch orientierten Baiern
gewesen ist.
3) Der Verlauf der Bistums- wie auch der Mundart- und Volkstums grenzen ist
offenbar nicht identisch mit der politischen Stammesgrenze, er spiegelt zum Teil
frühere Ver-hältnisse herrschaftlicher und siedlungsmäßiger
Natur wider.
__________________
94 Noch 1833 ist der Lech, wenngleich keine politische Grenze mehr, derart
trennend, daß der Landrath des Oberdonaukreises die Errichtung von
Brücken fordert: »Dieser Strom durchschnei¬det den Kreis nach mehr
als 2 Drittheilen seiner ganzen Länge, und trennt die Bewohner
dessel¬ben von den gegenüber wohnenden in Ober-Bayern dergestalt,
daß beiderseitige Bevölkerung, ob¬gleich ein und dem
nämlichen Vaterland angehörend, doch einander fast so fremd sind, als
ob ein 5 Stunden breiter Landstrich sie voneinander trennte.« (Frd!.
Mitteilung R. Haggenmüller.) Vg!. dazu von R. HAGGENMÜLLER, Bezirkstag
Schwaben 1954-1978, 1978.
_______________________________________________________________________
66
a) Die Augsburger Bistumsgrenzen östlich des Lechs können noch auf
spätantike kirchli¬che Traditionen (Augstgau, Klosterbistum im
Staffelsee), oder frühe Herrschaftsver¬bände (Huosigau)
zurückgehen. Bei der fränkischen Neu- bzw. Wiederbegründung im
beginnenden 7. Jahrhundert handelt es sich bei Augsburg wohl in erster Linie um
ein Bistum für die Alamannen, die vermutlich auch rechts des Lechs
siedelten. Die Grenze war jedoch lange Zeit offen; sie erhält erst im
ausgehenden 11. Jahrhundert ihren heute noch bestehenden Verlauf.
b) Die sprachgeschichtlich-mundartkundliche Untersuchung liefert wohl das
wichtigste Indiz, daß wir es mit einer frühen alamannischen
Vorbevölkerung und Siedlungstä¬tigkeit östlich des Lechs bis
zur Isar hin, insbesondere aber im Raum südöstlich von Augsburg zu tun
haben. Damit scheint der Befund der Hausformen zu korrespondie¬ren, die in
der Regel sehr beständig sind. Archäologische und namenkundliche
Unter¬suchungen sind bis jetzt unter dem Aspekt der alamannisch-baierischen
Siedlungs¬grenze noch nicht angestellt worden94a).
4) Seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert haben wir es mit einer ständigen
herrschaftlich¬baierischen überschichtung zu tun, die erklärt,
daß heute alle wichtigen gegensätzli¬chen Mundartmerkmale stark
gebündelt am Lech sich voneinander absetzen und die¬ser so eine der
»schärfsten Mundartgrenzen« des deutschen Sprachraumes bildet.
Schwäbischer Einfluß wirkte jedoch als Ausstrahlung des Hochstifts und
Bistums Augsburg sowie über den Grundbesitz schwäbischer
Reichsstädte östlich des Lechs unterschwellig weiter, ohne jedoch die
bewußtseinsprägende Kraft, die vom baye¬risch-dynastischen
Stammes- und Staatsbewußtsein ausging, in Frage zu stellen.
Gestatten Sie noch einen Schlußgedanken. Die Grenze, vor allem die
politische, ist nichts Statisches, Beharrendes und letztlich auch nichts
Trennendes, so sehr dies auch oft von den »Grenzziehern« und den
»Begrenzten« beabsichtigt gewesen sein mag. Grenzen werden und
vergehen, und wenn sie weiterbestehen, so wechseln sie ihre Funktion und Dichte
nach der jeweiligen historischen Konstellation: sie werden unterlaufen,
ausgehöhlt und geradezu verbindend, aber auch trennend und
undurchlässig bis hin zum »eisernen Vorhang«. Zur römischen
Zeit war der Lech wohl keine Grenze. Er wird es erst mit der
alamannisch-baierischen Stammes- und ostgotisch-fränkischen Reichsbildung.
Unter Karl d. Großen wird Baiern 788, wie zuvor Alamannien, dem
Frankenreich als Provinz ein¬verleibt. Die Lechgrenze verliert damit erstmals
ihre politische Bedeutung, als Stammes¬grenze bleibt sie jedoch bestehen und
gewinnt im jüngeren Stammesherzogtum wieder eine gewisse politische
Funktion. Seit Karl d. Großen gewinnen aber Augsburg und der
»Lechrain« jene Bedeutung, die dann im hohen Mittelalter voll zum
Tragen kommt: ein königlich/reichischer Stützpunkt auf der Grundlage
des Bistums und Königsguts zwischen dem baierischen und alamannischen
Stammesherzogtum zu sein und damit zugleich den Zugang zu den hier nach Italien
führenden Pässem (Brenner, Reschen/Scheideggpaß) 95)zu sichern
96).
____________
94a) Siehe jedoch zuletzt die Arbeit von M. Trier.
95) K. VÖLKL, Der obere Weg. Die Via Claudia Augusta auf der Strecke von
Bozen bis Landeck (Jb. d. Südtiroler Kulturinstituts Bd. V /VI/VII) 1965/67,
89 ff.
________________________________________________________________________
67
Unter den Saliern und Staufern wird so das Grenzland am Lech mehr und mehr zum wichtigen Durchgangs- und Verbindungsland zwischen den deutschen Landen, dem Reichsgut in Franken und Schwaben zum Reichsitalien (K. Bosl), als sich das Zentrum des Reiches von Westen nach Osten, zu den Ostfranken, Sachsen, Baiern und Schwaben hin verschiebt 96. Das Lechfeld und der sagenumwobene »Gunzenlee« ist der häufige Sammelort der Heere der deutschen Könige vor ihrem Zug über die Alpen nach Itali¬en 97. Erst der Untergang des Stauferreiches läßt die Lechlinie wieder mehr zur »Gren¬ze«, zur Territorialgrenze werden, die dann insbesondere seit dem Absolutismus immer trennender wird, zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber ihr Ende findet. Als Stammes¬grenze besteht sie bis heute fort und bildet zusammen mit der Ostgrenze des Bistums Augsburg die Ostgrenze des bayerischen Regierungsbezirks Schwaben 98). Als militä¬risch-strategische »Lechlinie« kam ihr noch in den deutschen Abwehrplänen des 2. Welt¬krieges eine bestimmte Funktion zu 99); zuletzt übrigens wieder im Rahmen von NATO-Verteidigungskonzeptionen, die aber nicht mehr zu unserem Referat gehören.
_____________
96 Vgl. den Beitrag von A. LAYER (HBG III/2) 1971: Schwaben; P. FRIED, Die
Staufer in Ost¬schwaben und am Lechrain, hrsg. v. d. Stadt Augsburg
1977.
97 B. EBERL (wie Anm. 31) Teil 11: Der Gunzenl~ (S.93).
98 Vgl. P. FRIED, Schwaben in der bayerischen Geschichte (Altbayern in
Schwaben/1) 1976 7-23.
99 R. WAGNER, Das Ende am Lech, 1977.